Kollateralschaden des Fortschritts.
Mein Coming-Out hatte ich 1984, mit 19 Jahren war ich f?r die damaligen Verh?ltnisse mehr oder weniger fr?h dran. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der S?dpfalz waren die M?glichkeiten ziemlich eingeschr?nkt, sich als Homosexueller frei zu entfalten - vor allem die intellektuelle Bandbreite einiger Mitmenschen in dieser l?ndlichen Gemeinschaft war zum Teil be?ngstigend schmal gehalten. Genauer gesagt: Ich hatte Schiss. Ein Gro?teil unseres Jahrgangs war katholisch erzogen und die vielen L?stereien meiner Freunde ?ber Schwule hatten mich einerseits neugierig gemacht, zum anderen auch ziemlich ratlos dar?ber, wie ich, nachdem ich mir ?ber mich klar wurde, einfach so sein konnte, wie ich bin. Aber die Frotzeleien und Hetze waren auch sehr informativ und ich wusste dann, da? es in Karlsruhe eine Bar gibt, der ?Smile Club?, in der dieses Pack verkehrt. Es war die einzige Information, die ich hatte und nur selbst verifizieren konnte - vielleicht hatte Tim Berners-Lee, wohl nach der Lekt?re von Orwells 1984, zu der Zeit gerade mal eine erste Vision des WorldWideWeb.
Am ersten Abend, an dem ich mich in diese verrufene Bar getraut hatte, war eigentlich noch gar nichts passiert. Dazu war einfach keine Zeit. Ich hatte n?mlich in dem Bruchteil einer Sekunde eine Cola bestellt, in einem Meer von Gef?hlen versenkt und war ganz schnell wieder aus dem Laden raus. Gezahlt hatte ich wohl, glaube ich - G?nter, das zust?ndige Bar-Etwas hinterm Tresen, war mir zumindest bei den folgenden Besuchen die Flucht nicht nachtragend. Ich war einfach etwas schockiert ?ber die vielen gebrochenen Handgelenke.
Aber ich hatte Blut geleckt und es hielt mich bald nichts mehr davon ab, meine Erfahrungen zu sammeln. Diese Bar war, neben Klappen und Parks, die einzige M?glichkeit, um jemanden mit den selben Absichten kennenzulernen - und die Auswahl war noch ?bersichtlich. Meinen ersten sexuellen Kontakt hatte ich schon sehr bald mit einem wesentlich ?lteren Mann, der mich in der Bar angemacht hatte. Ich fand ihn zwar sympathisch, war aber zu sehr mit dem Verarbeiten meiner neuen Eindr?cke besch?ftigt, um mich weiter auf ihn einzulassen. Ich bin auch heute noch nicht multitasking-f?hig.
Nach 1-2 weiteren Affairen hatte ich dann meinen ersten Freund kennengelernt, mit dem ich viele aufregende und sch?ne Wochen verbracht habe. Diese Verliebtheit blieb nat?rlich selbst dem naivsten Sch?fchen nicht verborgen. Das w?re so, als w?rde ein 5 Meter gro?er rosa Playboy-Hase in einer Fu?g?ngerzone nicht auffallen. Also hatten wir uns unseren Familien gegen?ber geoutet. Es war ein Desaster, oder zumindest tendenziell suboptimal. Aber diese Erfahrung hatte mich weiter getrieben, daf?r einzustehen, da? ein freies Leben auch die freie Wahl des Sexualpartners impliziert. Also bin ich aus Hotel Mama ausgezogen, um in der n?chsten gr??eren Stadt, aus der Anonymit?t heraus, nach Toleranz zu suchen. Meiner Jugendclique gegen?ber habe ich mich bis zum heutigen Tag nicht geoutet.
Mannheim war genial. Es war die Erleuchtung, die Transzendenz. Was als sexuelle Revolution 15 Jahre zuvor Downtown New York begann, wurde im M&S Connexion real praktiziert. Nach durchtanzten N?chten l?mmelte man zu Kinofilmen mit der neuesten Eroberung knutschend in dunklen Ecken herum und ging dann morgens um halb neun zusammen nach hause. Heute nennt man das chillen; damals gab es diesen Begriff nicht, aber es war trotzdem eine gro?artige Zeit. Der Darkroom war meine Kirche geworden, wie f?r viele andere, die sich gefunden hatten. Diese Parallelwelt bot einem die M?glichkeit, sich frei zu entfalten, das Versteck in der realen Welt zu verlassen und trotz aller Freiz?gigkeit und Oberfl?chlichkeit, die diese Szene grunds?tzlich entwickelt, war das Menschliche doch nie ins Abseits geraten. Der Sex war mit dem Gespr?ch verbunden - ob davor oder danach, das war egal. Wenigstens hatte man den Menschen etwas kennengelernt, den man gl?cklich gemacht hat.
Zehn Jahre sp?ter. Privat versuche ich noch immer die Aufl?sung meiner 8-j?hrigen Beziehung zu verarbeiten. Das einzig best?ndige ist nun mal die Ver?nderung, auch beruflich zeichnete sich das ab. Sich dagegen aufzulehnen, bringt absolut etwa Null. Ich begann also, meine Talente als Computerfl?sterer wieder zu entdecken und arbeite seither, von der Idee Tim Berners-Lee?s Internet fasziniert, als freier Webentwickler in diesem Bereich.
In Deutschland war das Internet Mitte der 90er Jahre erst im Kommen und die sexuelle Revolution hat diese Technologie eher befl?gelt - sie hat sie sich von Anfang an zu Nutze gemacht, so oder so. Mit diesem Fortschritt der Kommunikation hat diese Revolution inzwischen ihre Grenzen zur sozialen Integrit?t ins Nichts gesprengt. Die ersten Kontaktportale der Vor-Gayromeo/Gayroyal/Gaydar-?ra waren als Chatrooms bei Compuserve und AOL zu finden und auch dort hatte man - trotz aller Virtualit?t - noch all das erkannt und respektiert, was am Schwanz dranh?ngt. Die heute ?blichen Hochglanzkataloge zum Durchklicken gab es damals nicht, man war ?blicherweise mit einem analogen Modem ans Netz angebunden und konnte die ankommenden Bytes fast noch pers?nlich begr??en. Die digitale ISDN-Technik wurde erst frisch von der Telekom beworben, DSL war h?chstens in Pilotprojekten verf?gbar.
Zu Beginn der virtuellen Bekanntschaft stand daher immer das Gespr?ch. Man hatte die Interessen und Daten im Chat abgecheckt und Bilder per Email ausgetauscht, sofern man einen teuren Scanner besa?. Mobile Telefone konnten damals nur telefonieren, Digitalkameras waren noch unerschwinglich. Das Blind Date war in den meisten F?llen unvermeidlich. Aber man wurde wenigstens nicht versetzt und hatte die M?glichkeit, zu jeder Zeit dem Traumprinz zu begegnen, ohne abends durch die Bars ziehen zu m?ssen. Der Umgang war auch mehr oder weniger oberfl?chlich, aber anst?ndig.
Das Internet kenne ich, seit es sich hier in Deutschland etabliert hat. Ich arbeite seit vielen Jahren beruflich daran mit und es bestimmt auch in gro?em Umfang mein Privatleben. Mit dem iPhone bin ich nicht nur ?berall erreichbar, sondern erhalte auch jede verf?gbare Information aus dem globalen Netz jederzeit und ?berall. Das ist es auch, was mich noch heute an diesem Kommunikationsmedium fasziniert. Vor allem die Progression des Fortschritts ist ?berw?ltigend und zieht mich immer wieder in ihren Bann.
Doch hat diese Performanz auch ihren Preis, in Bezug auf die Qualit?t und ethische Grundregeln hat die Kommunikation auf diesem Kanal sehr an Wert verloren. Es kommt mir vor, als w?rde mit zunehmender Geschwindigkeit paradoxerweise immer weniger kommuniziert werden. Selbst ?ltere Nutzer dieses Mediums, die eigentlich den Unterschied zur fr?heren realen Welt noch kennen m?ssten, verfallen dieser Ignoranz des Menschlichen. Der Klick auf den Nein danke-Button ist ein Klick zuviel. Ein eigenes Bild im Profil ist unn?tiger Aufwand, man bedient sich im Netz, da gibt?s ja genug. Es reicht ein Bild vom Schwanz / Arsch, wer interessiert sich schon f?r das Gesicht. Und ohne X wird?s eh nix.
Man klickt sich durch die sch?ne digitale Scheinwelt von L?ge zu L?ge durch ein Meer der Selbstverachtung und manchmal w?nsche ich mir das Modem zur?ck...
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